In Monte do Gozo war ich wieder um sieben Uhr gestartet. Sechseinhalb Kilometer bis Santiago, hatte man mir in der Cafeteria am späten Nachmittag gesagt, als ich nach dem Duschen und Umziehen viele alte Bekannte vom Camino dort traf. Auch jenes Paar, das mir im Vorbeigehn half, meinen Chubasquero über den Rucksack zu ziehen, was bei dem wolkenbruchartigen Regen schon von Vorteil war. "Muchas gracias", konnte ich noch sagen, dann waren sie vorbei. Vorher stand ich da wie ein Käfer, der vergeblich versuchte, seine Flügeldecken in Ordnung zu bringen! Nun konnte ich mich nochmals bedanken und wir unterhielten uns eine ganze Weile.
Nachdem ich in
der Reception meine Schlüssel abgegeben hatte, machte ich mich auf die
letzte Etappe. Santiago de Compostela!!! Es war schon ein gutes Gefühl,
all die vielen Kilometer, die ich in meinen Herbstferien schaffen konnte, so
gut überstanden und nun nur noch diesen Spaziergang von einer Stunde vor
mir zu haben.
Der Dumont war immer zur Hand, nicht noch
zu guter Letzt verlaufen - '...noch auf des Hauses Schwelle strauchelt des
Heimkehrenden Fuß...' , ging es mir durch den Kopf und dachte an die
Etappe nach Sarria. Großer Straßenkreisel, Autobahn unterquert,
Eisenbahnstrecke überquert, wieder ein Kreisel ( N634/547), Kirche San
Lazaro, Gabelung links .... Ein Blick, hier zu Hause, auf den in Santiago
gekauften Stadtplan, sagt mir, daß ich ganz schönes Glück
gehabt habe, oder daß die gelben Pfeile, denen man fast automatisch
folgte, mir problemlos den Weg gewiesen. Nun noch die Rúa de San Pedro,
die Porta do Camiño, die schließlich in die Altstadt von Santiago
de Compostela führt.
Gegen acht Uhr stehe ich auf der Praza de
Inmaculada vor dem Nordportal der Kathedrale und betrete sie durch das
Pilgerportal. Ruhig und fast menschenleer ist es noch im großen
Gotteshaus, hoch oben dringt durch die Fensteröffnungen einer Kuppel das
erste schwache Tageslicht. In regloser Andacht verharren einige Gläubige,
nichtachtend der Passanten, die leise eine Abkürzung durch die
verschiedenen Portale nehmen. Vorsichtig nehme ich meinen Rucksack ab, lege ihn
mit dem Pilgerstock behutsam auf die Bank und sitze still und in mich gekehrt
fast eine halbe Stunde und überdenke meine Fahrt, die vielen Etappen, die
endlosen Wege - Ankunft und Abschied.
Der
Aufgang zur Silberbüste des Jacobus (abrazo) hinter dem Hochaltar war noch
geschlossen, so besuchte ich den Silberschrein darunter mit dem Grab des
Apostels, um das herum sich die Stadt Santiago de Compostela erst entwickelt
hatte. Dann fragte ich mich nach dem Pilgerbüro durch und war noch vor
neun Uhr da. Es war aber noch geschlossen, so dass ich mich auf die Suche nach
einer habitación machte. Zwei nahegelegene Hotels verlangten 54
dafür, ohne Frühstück!
Wollte dann im Pilgerbüro fragen, wo meine Compostela auf meinen "Camino
fighting name", für Folker Wagner Mummenthey oder latinisiert Fulcherum
Wagner Mummenthey ausgefertigt wurde. Nach der Angabe meiner Nationalität,
wurde ich in akzentfreiem deutsch, andere Pilger nach mir, ebenso geläufig
in anderen Sprachen, nach den Reisedaten, der Credencial und dem
Fortbewegungsmittel befragt: "A pie", sagte ich , mit fast verletztem Stolz auf
mein lädiertes Knie deutend.
Als ich das Pilgerbüro
verließ, mit der Auskunft, im Touristenbüro nach einer
habitación zu fragen, war nur blauer Himmel zu sehen. Eigentlich eine
Seltenheit in Santiago mit seinen 300 Regentagen pro Jahr! Doch irgendwo
muß sich doch noch eine Regenwolke im wahrsten Sinne des Wortes
aufgehalten haben, denn auf meiner Compostela hat sie sich mit drei Tropfen und
drei feinen Spuren verlaufener Tinte verewigt. So hatte ich keine Ruhe, bis ich
eine solide Papprolle zur sicheren Aufbewahrung erstanden hatte.
Auf dem
Weg zum Tourismusbüro kam ich an der Bar und Hospedaje Suso in der Rua do
Vilar vorbei und bekam auf meine Frage tatsächlich eine ordentliche
habitación zu einem guten Preis. Die Wahl sollte mich nicht reuen und
ich denke gern an die muchos bares in Santiago und besonders gerne an diese
eine zurück, wo es sich immer gut zu einem Café con leche und einer
Tarta de Santiago sitzen ließ - und man war ein Teil des schwungvollen
Lebens dieser dynamischen Stadt.
Draußen auf den Straßen und
Gassen der Altstadt, der Rúa Nova, der Rúa do Vilar und dem
Cantón do Toural hin zu den Buslinien in der Nähe des Praza de
Galicia herrscht ein ständiges Kommen und Gehen,
viele junge Leute, die hier in Santiago studieren oder arbeiten. Als ich am
Sonnabend Morgen kurz nach fünf mit dem Taxi zum Flughafen von Santiago
fuhr, waren die Straßen ungewohnt belebt durch die nach ihren
Wochenendvergnügungen in kleinen schwatzenden Grüppchen heimkehrenden
jungen Menschen.
Die Bares haben eine wichtige soziale Funktion, hier geht
man schnell mal rein um Geld für Zigaretten zu wechseln, die Zeitung zu
lesen, mit den Leuten ein kleines Schwätzchen zu halten - natürlich
kann man auch etwas trinken oder essen - oder sich still in eine Ecke zu
setzen, um über etwas nachzudenken. Ich könnte mir Santiago und all
die Orte, die ich längs des Camino kennenlernte, nicht ohne die Bares
vorstellen, wo für viele der kleinen alltäglichen Probleme im
direkten Zuspruch eine Lösung gefunden werden kann.
Es regnete
tatsächlich oft, ganz fein oder wolkenbruchartig, ein Regenschirm
gehörte zum Standard Outfit. Für drei hatte ich mir einen
Taschenschirm gekauft - es war eine günstige und zweckdienliche
Geldanlage, in Santiago hat er den Regen ferngehalten, ohne dass ich ihn hab
entfalten müssen, hier zu Hause dafür um so mehr.
Wonach dieses steingewordene Ungeheuer wohl Ausschau hält?
Noch ist alles ruhig.
In meinem Tagebuch kann ich keine Notiz darüber finden, wann es sich genau abgespielt hat, aber das Finden einer habitación war immer die wichtigste Aufgabe gleich nach der Ankunft in einem neuen Ort. Ich erinnere mich nur noch an die kleine schmale Tür hinter dem Bartresen, durch die man nur gebückt auf eine nach oben führende Treppe gelangte. Doch hatte das Zimmer entgegen der Zusage, Dusche und Toilette separat und das Bett lag noch so, als ob der Vorgänger, gerade ausquartiert, noch irgendwo auf den Rest seiner Nutzungsdauer wartete. Da brachte auch die schöne Aussicht auf den Platz soundso gar nichts, trotz Lamento und Gezeter machte ich auf dem Absatz kehrt, überwandt Treppe und Luke glücklich und war froh, noch alles beieinander zu haben.
Timpano central.
Mano.
Umgezogen und ohne Rucksack
leichtfüßig, machte ich mich wieder auf den Weg zur Kathedrale, die
nun von wahren Touristenströmen überschwemmt war. Reihte mich am
Pilgertor in eine geduldig ausharrende Menschenschlange ein, gelangte über
besagte Treppe im Hochaltar zur Silberbüste Santiagos, legte meine Arme um
ihn, sagte ihm, was ich mir auf dem Camino wieder und wieder überlegt und
vorgesagt hatte und ging dann nochmals hinunter zu seinem
Silberschrein.
Legte in einer anderen Schlange endlich nach vorne gelangt,
im Mittelportal, meine Hand in die von abertausenden Händen in
aberhunderten von Jahren ausgehöhlte Stelle des Mittelpfeilers, der die
Wurzel Jesse darstellt, worauf der Apostel Jakobus sitzt, über sich, im
reichgegliederten Hauptthympanon Jesus Christus, seine Wundmale zeigend und
berühre schließlich dreimal mit der Stirn den Kopf der Statue des
Meister Mateo, auf dass seine in diesem großartigem Bauwerk der
Kathedrale verewigte Ingeniosität auch auf mich übergehe. Abrazo,
mano y cabeza heißen diese drei Rituale, die kein Jakobspilger
versäumen dürfte.
Eine Weile gehe ich noch in der Kathedrale
herum, man kann sich darin verlaufen, zumal durch die Kanalisierung der
Menschenmengen für abrazo, mano, cabeza und die Grabkammer, die Kirche zu
einem Irrgarten von Einbahnstraßen und Sackgassen wird. Dann in einer
Regenpause gehe ich einen Café con leche trinken und komme fast zu
spät zum Pilgergottesdienst um 12 Uhr. So kann ich von meinem etwas weiter
entfernten Platz auf dem Fuß einer Säule keine so hinreißenden
Bilder von dem über die Pilgermassen hin und her schwingenden Botafumeiro,
dem großen Weihrauchfaß machen, wie ich sie in einem Fernsehfilm
sah, der den letzten Anstoß zu meiner Pilgerfahrt gab. Laudate, singt
eine Nonne mit engelsgleicher Stimme und die Pilger respondieren. Rechts von
mir Santiago matamoros wie er gewaltig mit Banner und Schwert auf die Mauren
einhaut. Am Ende des Gottesdienstes wird dann, wie sonst nur an Sonntagen oder
Festtagen das Weihrauchgefäß an einem langen Seil befestigt,
entzündet und dann von sechs kräftigen Mönchen, über sechs
Zugseile hoch über die Pilgermenge durch das Kirchenschiff geschwenkt.
Heute eine der Hauptattraktionen der Kathedrale, hatte der, das gesamte
Kirchenschiff mit Weihrauch erfüllende, Botafumeiro früher noch eine
ganz andere Funktion, der Desinfektion und Desodoration der verschwitzten
zerlumpten und zum Teil von ansteckenden Krankheiten geplagten
Pilger.
Das Seil wird befestigt...
...der Weihrauch entzündet,
sechs Mönche ziehen...
den Botafumeiro über die Menge.
Weit nach vorn schwingt das Weihrauchfaß...
... und weit zurück.
Langsam schwingt es aus...
... und wird eingefangen.
Über diese Rollen läuft das Seil für den Botafumeiro.
Das Seilende mit den sechs Zugseilen.
Nach dem Pilgergottesdienst
verlasse ich die Kathedrale und gehe außen herum, weil es gerade nicht
regnet und ich mein Ziel auf anderem Wege nicht erreichen kann, auf der
Suche nach den beiden Andenkenläden, in denen ich für Mexico eine
Kerze kaufen wollte. Es gab keine schönen Kerzen mehr für Niltepec,
dafür traf ich, woran ich nie im Leben gedacht hätte, hier in
Santiago und ebenfalls über den Camino angelangt, eine Kollegin meiner
Schule.
Ich sprach sie an und gerührt durch solch ein
unverhofftes Treffen an diesem besonderen Ort fielen wir einander in die Arme.
Wie sich später im Gespräch ergab, stammte von ihr ein Madonnenbild
aus O Cebreiro (Santa María a Real), das in meinem Bild der kleinen
Kapelle nahe Brea am Kilometerstein 100 deutlich sichtbar über all den
anderen Opfergaben prangt!
Meine Kerze für die Kirche Santiago
Apóstol in Niltepec, México kaufte ich dann in der Altstadt,
galicische Handwerksarbeit, trug sie zur Kathedrale und sprach einen der
Priester in ihren Beichtstühlen an: "Padre, la vela es para mis parrientes
en México, para la Iglesia de Santiago Apóstol en Santiago
Niltepec." Der Padre schrak aus einem Nickerchen auf , nahm die Kerze und
wollte sie beiseite legen. "Nein padre, die Kerze ist für meine Verwandten
in Mexiko, für die Kirche des Apostels Jakob in Santiago Niltepec",
wiederholte ich auf spanisch, "und ich möchte dass Sie ihren Segen
darüber sprechen!" Schließlich verstand er, dass die Kerze keine
Spende für seine Kirche sein sollte, hielt seine Hand darüber und
sprach etwas - ich hoffe, dass nun alles seine Richtigkeit hat!
La Catedral, Silhouette des zwischen 1676 und 1680 von Domingo de Andrade erbauten Torre del Reloj (Uhrturm).
Der Uhrturm, Torre del Reloj...
...in wechselndem Licht....
...und wechselnden Perspektiven....
...entzieht sich der Totalen.
Die Kathedrale von Santiago de
Compostela habe ich früh morgens noch als Pilger betreten, lange bevor sie
der Strom der Touristen überschwemmte. Ich saß ganz in Gedanken,
mein kleines Abenteuer über O Cebreiro hinaus nach Roncesvalles und weiter
nach Hannover verlängernd, die Erinnerung an den Fund einer Jacobsmuschel
in einer Schicht aus dem 13./14. Jahrhundert, neben der Fahrbahn der
Roßmühle - ebenso durchbohrt für einen Faden wie die Muschel,
die gegen meinen Rucksack klappernd meinen Weg begleitet hat - nun auch die
zeitliche Dimension erweiternd mit all den Heerscharen von Pilgern dieses so
europäischen Pilgerweges, die so erwartungsvoll wie ich einmal hier
angelangt sein mögen. Haben sich ihre Wünsche und Hoffnungen
erfüllt nach der langen, entsagungsvollen und gefährlichen Reise und
der noch im Ungewissen liegenden hoffentlich geglückten Heimkehr?
Mit
und gegen den Strom habe ich La Catedral dann noch vielmals durchschritten und
mich von der besonderen Stimmung anstecken lassen. An ein persönliches
Wunder zu glauben, wird nicht so einfach steifleinen abgebügelt. Man kann
seinem je eigenen Schutzheiligen einige Cent spenden und eines der vielen
elektrischen Lämpchen leuchtet zunächst rhythmisch auf, damit man
seine 'Kerze' identifizieren kann. Santiago Apóstol, dem ich in Santiago
de Niltepec zuerst begegnete, in der Kirche dort mit den Mumenthey
Schriftzügen in den Rücklehnen der Kirchenbänke und auf den
Kirchenbannern der Fiesta als einer mexikanischen Inkarnation des
Apóstol Matamoros, der als der besondere spanische Schutzpatron seine
galicische Provenienz nicht verleugnen kann, Xacobeo hat es mir besonders
angetan.
Man konnte auch, in einer Stadt mit den fast sprichwörtlichen
300 Regentagen im Jahr, an dem einen Kirchenportal vom Regen abgeschreckt, ein
anderes wählen, dort endlich angekommen, hatte der Regen bestimmt
aufgehört! Was wohl Wunder und Ausmaße der Kathedrale
gleichermaßen erklären mag!
Detail der farbenprächtigen Ausschmückung der Kathedrale.
Lange Warteschlangen vor dem Grab des Santiago Apóstol.
Viele gut besuchte Gottesdienste, auch in deutsch.
Santiago Matamoros.
An allen Ecken und Enden Santiagos
kann man Musik hören, die einen zunächst an irische oder schottische
Folklore erinnert. Dann aber merkt man schnell die Unterschiede und ich habe
mir einige CDs mitgenommen, abgesehen von der Fito y Fitipaldis CD 'Los
sueños locos' mit einer ganz anderen Stilrichtung, die ich mir schon auf
dem Flughafen von Barcelona kaufte und über den Camino schleppte.
Nun kam es auf das Gewicht nicht mehr an und ich konnte mir
noch zusätzlich eine Reisetasche als Bordgepäck zulegen, um auch die
Bücher, denen ich nicht widerstehen konnte und die anderen Reiseandenken
transportieren zu können. Der Rucksack war ohnehin bis oben vollgestopft,
schon vor der Ankunft in Santiago!
Einige Zeit nahm auch die Suche nach und
in Apotheken, nach geeigneten Mitteln, mein Knie zu kühlen, in Anspruch,
so dass ich neben den vielen Buchläden, auch fast alle Farmacias der
Altstadt kennenlernte. Die Suche nach Heinrich Heines Romanzero in der
Bibliothek der Universität von Santiago de Compostela erbrachte den
gewünschten Titel - aber es war die deutsche Ausgabe. Auf der Suche nach
einer spanischen Übersetzung, des in dieser Ausgabe enthaltenen 151
Strophen (mit Präludium) umfassenden Gedichtes über die Eroberung
Mexicos durch Hernán Cortés, eine weitere Fehlanzeige. War es
doch auch meine Reise nach Mexico und Santiago Niltepec, Oaxaca (Istmo), die
mich zu Namensverwandten führte, alle getauft in der Kirche Santiago
Apóstol, die meinen Entschluss, nun die Stadt ihres Schutzpatrons zu
besuchen, bestärkt hat.
Immer ist Leben in den Straßen und Gassen.
Richtig leer ist es selten.
Rúa do Vilar, mit Bar und Hospedaje Suso.
Otro Café Bar.
Die prunkvolle barocke Fachada (Fassade) del Obradoiro an der Praza do Obradoiro.
Es kann auch einige Male geregnet haben, den Taschenschirm, den ich in Santiago kaufte, brauchte ich dort nie.
Blick vom Museo do Pobo Galego über die Dächer Santiagos und die Türme der Kathedrale.
Die Compostela mit den Spuren der drei Regentropfen
Weitere Etappen